Die Auswirkungen von Covid-19 auf die “ältere” Bevölkerung im Tessin
Ausgabe: 02-2022 Datum: 28.02.2022
Thema: Gesundheit, News, Sozialpolitik, Wohnen im Alter & Mobilität
Ist man ab dem 65. Lebensjahr alt? Wie ging es den "Alten" im Tessin während der ersten Welle von Covid-19?
Das sind die Antworten aus einer Umfrage, die vom Consiglio degli anziani del Cantone Ticino veranlasst wurde.
Das Tessin war der erste Kanton in der Schweiz, der stark von dem neuen Coronavirus betroffen war: Der erste bestätigte Fall datiert vom 25. Februar 2020. Zwei Wochen später, am 10. März, wurde der erste Todesfall im Zusammenhang mit Covid-19 bekannt. Obwohl damals nur wenig über das neue Virus bekannt war, stellte sich bald heraus, dass die meisten Betroffenen über 50 Jahre alt waren und dass die Todesfälle hauptsächlich ältere Menschen betrafen. Die kantonalen Behörden haben aber schnell gehandelt und die Bevölkerung aufgefordert, das Ansteckungsrisiko so gering wie möglich zu halten, und haben erste restriktive Massnahmen ergriffen.
Die Besorgnis wuchs jedoch von Tag zu Tag, und die Behörde informierte die Bevölkerung über den Generalstab täglich über die Entwicklung der Lage, die sich im Laufe der Zeit immer mehr verschlechterte. In der Zwischenzeit wurden auch Präventivmassnahmen ergriffen, um das Schlimmste zu verhindern: Neuorganisation von Notfallzentren in Krankenhäusern, Besuchsverbote in Altersheimen und erste Bewegungseinschränkungen für Menschen über 65. Diese Altersgrenze, die eingeführt wurde, um eine klare Trennung zu schaffen, gefiel vielen Menschen nicht, die plötzlich als “alt” etikettiert wurden. Der Appell des Kommandanten des Generalstabs “… die über 65-Jährigen sollen für einen Moment in den Winterschlaf gehen, damit wir nicht gezwungen sind eine Ausgangssperre zu verhängen…”, war zwar in einer sich ständig verschlechternden Situation verständlich, blieb aber in den Köpfen derjenigen hängen, die darin den Beginn einer schwierigen Zeit sahen, die sie an ihre Häuser fesseln würde, ohne dass sie hinausgehen könnten, um ihre täglichen Einkäufe zu erledigen oder ihre Enkelkinder zu umarmen.
Um herauszufinden, wie die Betroffenen auf die Appelle der Behörden reagierten, vor allem aber um zu verstehen, wie die “Alten” auf die Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit reagierten und wie sie sich behandelt fühlten, beschloss der Consiglio degli anziani del Cantone Ticino, eine Studie zu diesem Thema durchzuführen.
Daher wurde im Herbst 2020 eine Studie über die Auswirkungen der von Bund und Kantonen zum Schutz der an den stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen auferlegten Beschränkungen in Auftrag gegeben, die sich vor allem an die im Tessin lebende “ältere” Bevölkerung richtete und von der Stiftung Sasso Corbaro und dem Centro competenze anziani der Fachhochschule der italienischen Schweiz (SUPSI) durchgeführt wurde.
Die Forscher befragten 818 Personen im Alter zwischen 65 und 93 Jahren, die zu Hause lebten, und schlossen dabei bewusst Bewohner von Altersheimen aus. Die ausgewogene Verteilung der Geschlechter (54% Frauen und 46% Männer) und das Durchschnittsalter der Befragten (wenig unter 73 Jahren), 2/3 der Befragten sind zwischen 65 und 74 Jahre alt) verleihen der Studie die gewünschte Repräsentativität der “älteren” Bevölkerung des Tessins. Die Antworten wurden zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 gesammelt, also genau zu der Zeit, als die zweite Welle des Coronavirus im Kanton auftrat. Die Forschungsergebnisse, die in der Broschüre “Dignità, anziani e Covid-19” zusammengefasst sind, wurden Ende letzten Jahres an einer gut besuchten Pressekonferenz und an öffentlichen Abenden vorgestellt, die auf grosses Interesse stiessen.
Wie Dr. Maria Luisa Delcò, Präsidentin des Consiglio degli anziani, und Professor Dr. med. Roberto Malacrida, Vorsitzender des wissenschaftlichen Ausschusses der Sasso-Corbaro-Stiftung erläuterten, wurde keine Definition des Begriffs “Würde” eingesetzt, aber man habe beschlossen, die direkt Betroffenen erzählen zu lassen. “Ich bin von der Idee ausgegangen, dass es ein Gefühl des ‘Respektverlustes’ gegeben hat”, erklärt Roberto Malacrida, “und dass der Wert der Würde des Einzelnen unter Druck geraten ist, während die Ergebnisse zeigen, dass dies in gewissem Sinne kein grosses Problem war”. In der Tat äusserten sich 45 % der Befragten positiv über die Massnahmen.
Fast jeder Dritte gab an, dass er die Massnahmen schlecht erlebt hat, sowohl was die Distanzhaltung als auch die Einengung betrifft. Während der Präsentation hat Prof. Stefano Cavalli, Soziologe und Leiter des «Centro competenze anziani» der SUPSI, einer der Autoren der Studie, darauf hingewiesen, dass “eine Massnahme mehr als andere die Betroffenen gestört habe: das Einkaufsverbot für die über 65-Jährigen». Wir wissen, dass die Verwendung einer Altersgrenze für die Einführung von Verboten sicherlich bequem und praktisch ist, aber sie ist auch problematisch, weil es sich um eine willkürliche Schwelle handelt. Ab einem bestimmten Alter ist man nicht unbedingt gefährdeter oder anfälliger, und die Unterschiede zwischen den einzelnen Personen werden nicht berücksichtigt. Maria Luisa Delcò fügte hinzu: «Der Aspekt, nicht frei einkaufen zu können, sollte nicht bagatellisiert werden. Normalerweise kann eine ältere Person selbständig sein und sogar ihrer Tochter, die drei Kinder hat, bei der täglichen Arbeit helfen. Die plötzliche Erkenntnis, dass man ein gewisses Alter erreicht hat und nicht mehr unabhängig ist, kann sehr schwer zu akzeptieren sein.»
Marco Lafranchi, Mitglied des Vorstandes VASOS FARES
Wer mehr über die Studie erfahren möchte, kann die Broschüre “Dignità, anziani e Covid-19” kostenlos beim Sekretariat des Consiglio degli anziani del Cantone Ticino beziehen: info@consiglioanziani.ch
oder direkt in digitaler Form herunterladen: Broschüre