Gewalt gegen ältere Menschen in der Schweiz
Thema: Gesundheit, News, Sozialpolitik, Wohnen im Alter & Mobilität
Es sollen endlich Rechtsinstrumente zu ihrem Schutz geschaffen werden!
Die Situation ist leider hinlänglich bekannt: In den Medien wird immer wieder von Zwangseinweisungen und Gewalt gegen ältere Menschen berichtet, die gegen ihren Willen in Altersinstitutionen eingewiesen werden. Gegenwärtig gibt es keine Rechtsmittel, die die Würde und den Willen der Betroffenen angemessen schützen. Die politischen Behörden müssen jedoch schnell umsetzbare Lösungen für dieses Problem finden.
Das Thema gibt Anlass zu berechtigter Sorge und wurde bereits vor einigen Jahren von der Luzerner Nationalrätin Ida Glanzmann-Hunkeler angesprochen, die den Bundesrat in einem Postulat ausdrücklich aufforderte, sich dem gravierenden Problem des Altersschutzes anzunehmen und entsprechende Rechtsmittel zu schaffen.
In seiner Antwort räumte der Bundesrat ein, dass “körperliche Aggression, psychische Gewalt oder Vernachlässigung zu beobachtende Phänomene sind und dass eine grosse Zahl älterer Menschen sowohl zu Hause als auch in Institutionen von Misshandlungen betroffen ist”.
Der Bericht zog eine besorgniserregende Bilanz der Situation und schätzte, dass jedes Jahr zwischen dreihunderttausend und einer halben Million Menschen über 60 Jahre Opfer irgendeiner Form von Gewalt oder Vernachlässigung werden würden.
Der Bundesrat erkannte auch an, dass “Autonomieverlust, Isolation, Demenz und emotionale oder finanzielle Abhängigkeit ältere Menschen angesichts von Missbrauch schwächen”. Die Exekutive betonte jedoch, dass Missbrauch nicht immer auf böswillige Handlungen zurückzuführen ist, sondern oft durch andere Faktoren verursacht wird, insbesondere durch die “Überlastung von Familienmitgliedern, Fachleuten und Hilfspersonal, die Pflege und Hilfe leisten“.
Nach Ansicht des Bundesrates hat die Coronavirus-Krise dieses Phänomen verdeutlicht und die unscharfe Grenze zwischen der Pflicht zum Schutz älterer Menschen und dem Respekt vor ihrer Selbstbestimmung deutlich gemacht.
Der Bundesrat stellte ferner fest, dass zur Bekämpfung der Misshandlung älterer Menschen “eine Reihe von Präventions-, Früherkennungs- und Interventionsmassnahmen erforderlich sind, die sich an die Opfer, ihre Familien, die Fachleute in den betroffenen Bereichen und die Bevölkerung richten“.
Der Bericht des Bundesrates gibt einen Überblick über die bereits erlassenen Bestimmungen auf allen Ebenen (insbesondere im rechtlichen Bereich sowie im Gesundheits- und Bildungswesen) und weist darauf hin, dass die Hauptverantwortung bei den Kantonen liegt, dass aber auch die Organisationen der Alters- und Opferbetreuung, die Ausbildungsinstitutionen für Gesundheitspersonal und die Pflegeinstitutionen eine wesentliche Rolle spielen.
Seinerseits hat Dr. med. Franco Denti, Präsident des Berufverbands der Schweizer Ärztinnen und Ärzte des Kantons Tessin (OMCT) kürzlich auf LiberaTV einen interessanten Beitrag veröffentlicht. Er beschreibt die Notwendigkeit, dass man die Rechte der älteren Menschen besser schützen soll und fordert die politischen Behörden auf, den rechtlichen Rahmen für die Organisation von Pflegeheimen und häuslichen Pflegediensten zu überprüfen.
Dr. Denti bezieht sich auf das Konzept der “bientraitance”, als das von den Fachkräften in Sozial- und Gesundheitseinrichtungen gewünschte Verhalten als “eine Art zu sein, zu handeln und zu sprechen, die sich um die andere Person kümmert, auf ihre Bedürfnisse und Wünsche eingeht und ihre Entscheidungen und Ablehnungen respektiert” definiert.
Das Konzept der “bientraitance” wird auch im strategischen Referenzdokument für den Sozial- und Gesundheitsbereich, das der Kanton Tessin kürzlich im Rahmen der “Integrierten Planung 2021-2030” erstellt hat, umfassend berücksichtigt. Darin wird die Rangfolge der Massnahmen festgelegt, mit denen auf die verschiedenen Bedürfnisse der Bevölkerung in folgenden Bereichen angemessen reagiert werden soll: Altenheime, häusliche Betreuungs- und Pflegedienste, Unterstützungsdienste und direkte Hilfen für den Verbleib der Menschen in ihrer Wohnung.
Um die Interessen und Erwartungen der älteren Menschen, die mit dem Problem der Zwangsunterbringung in für sie vorgesehenen Einrichtungen konfrontiert sind, angemessen zu schützen, ist es nach Ansicht des Präsidenten des Berufsverbandes auch notwendig, auf gesetzlicher Ebene tätig zu werden, indem das kantonale Gesetz über ältere Menschen (Legge cantonale sugli anziani) und das kantonale Gesetz über die Pflege und Betreuung zu Hause (Legge cantonale sull’assistenza e cura a domicilio) geändert und angepasst werden. Die beiden Gesetze enthalten nämlich “ausschliesslich wirtschaftliche Bestimmungen und bieten keine rechtlichen und verfahrenstechnischen Lösungen, die geeignet sind, die Rechte älterer Menschen wirksam und einklagbar zu machen.”
Dr. Denti stellt weiter fest, dass “der ältere Patient, der eine ‘pseudo-freiwillige’ Hospitalisierung erleidet, in seinen Schwierigkeiten nicht angemessen unterstützt wird und keinen Zugang zu einer gerichtlichen Instanz hat, die die Massnahme unter dem Gesichtspunkt der verfassungsmässigen Rechte bewertet. Das Gleiche gilt für einen Patienten oder Bewohner eines Altenheims, der durch interne Richtlinien der Einrichtung z.B. in seiner Bewegungs-, Meinungs- und Informationsfreiheit oder auch in seiner künstlerischen Freiheit eingeschränkt ist“.
Im Falle des Entzugs oder der Einschränkung der verfassungsmässigen Rechte älterer Menschen ist der einfache und unmittelbare Zugang zu einer gerichtlichen Instanz derzeit nicht gewährleistet, wie dies für psychiatrische Patienten im Rahmen des Sozialpsychiatrischen Betreuungsgesetzes (Legge sull’assistenza sociopsichiatrica) der Fall ist. Dieses Gesetz sieht nämlich die Einrichtung eines Rechtsausschusses (Commissione giuridica) vor, der der zuständigen Behörde Fälle melden soll, in denen es Hinweise auf eine mögliche Verletzung oder Einschränkung der individuellen Freiheiten der Nutzer gibt.
Dr. Denti ist der Meinung, dass die derzeitige Lösung, d.h. die Möglichkeit, zweifelhafte Fälle der kantonalen Gesundheitskommission (Commissione cantonale di vigilanza sanitaria) zu melden, keine ausreichende Garantie darstellt: es handelt sich nämlich um ein Verwaltungsorgan, das für den Zweck nicht strukturiert und organisiert ist, um im Falle von angeblichen Verletzungen der Menschenrechte der betroffenen älteren Person rechtzeitig zu reagieren. Ausserdem handelt es sich bei dieser Behörde nicht um ein Justizorgan, das die in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geforderte Unparteilichkeit und Unabhängigkeit gewährleisten kann. Auch die kantonalen Schutzbehörden, die zudem wiederholt Zweifel an ihrer materiellen Kompetenz zur Beurteilung dieser Art von Rechtsstreitigkeiten geäussert haben, sind dafür nicht geeignet.
Dr. Denti stellt fest, dass “sich die älteren Menschen aus rechtlicher Sicht in der gleichen inakzeptablen Situation befinden wie die Psychiatriepatienten vor 1980 (wofür sich die kantonalen und eidgenössischen Behörden kürzlich offiziell entschuldigt haben)”, und er hofft, dass die zuständigen Behörden “die im Tessiner Sozialpsychiatriegesetz gemachten Erfahrungen nutzen und so schnell wie möglich dafür sorgen, dass die älteren Menschen, insbesondere die in stationären Einrichtungen lebenden, ihre Rechte in vollem Umfang wahrnehmen können”.
Schliesslich fordert Dr. Denti daher eine Änderung der derzeit geltenden Gesetze und die Festlegung eines eindeutigen Rechtsstatus für ältere Menschen, in dem ihre verfassungsmässigen Rechte und die Bedingungen, unter denen eine Einschränkung nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit möglich ist, festgelegt werden. Ausserdem fordert er die Einrichtung einer Beschwerdestelle mit umfassenden Prüfungsbefugnissen, die jeden Rechtsakt aufheben kann, der die Rechte der Patienten verletzt.
Marco Lafranchi, Vorstand VASOS FARES