Szenario Obsan 2040 – Pflege und Betreuung älterer Menschen
Ausgabe: 06-2022 Datum: 30.06.2022
Thema: Generationendialog, Gesundheit, News, Sozialpolitik, Wohnen im Alter & Mobilität
Mit klaren Visionen und wirksamen Massnahmen die Zukunft anpacken
Die kürzlich veröffentlichte Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) zeigt deutlich, dass die ältere Bevölkerung in der Schweiz in den kommenden Jahren stetig wachsen wird. Die Altersgruppe der über 80-Jährigen wird sich bis 2040 verdoppeln, während die Gruppe der über 65-Jährigen im gleichen Zeitraum um mehr als die Hälfte zunehmen könnte. Diese Prognosen stellen eine grosse Herausforderung für den Gesundheits- und Pflegesektor in unserem Land dar.
Neben den strukturellen Schwierigkeiten (Bedarf an mehr Betten in den Altersheimen, erhebliche Ausweitung der Pflegeleistungen, neue Formen und Massnahmen zur Förderung des Verbleibs älterer Menschen zu Hause usw.) muss auch der Mangel an Fachkräften behoben werden, die nach und nach für die Betreuung und Pflege älterer Menschen zur Verfügung gestellt werden müssen. All dies wird zu einem starken Anstieg der Ausgaben führen, die sich bis 2045 auf fast 3,4% des nationalen Bruttosozialprodukts verdoppeln könnten.
Wie Raffaele De Rosa, Staatsrätin und Direktorin des Departements für Gesundheit und Soziales (DSS), in einem Interview mit der Tageszeitung «Corriere del Ticino» feststellt, spiegeln sich die Prognosen und Sorgen auch in der Realität des Kantons Tessin wider. «Die Ergebnisse der nationalen Studie (Obsan) bestätigen das allgemeine Phänomen der Überalterung der Bevölkerung, das auf eine stärkere Zunahme der über 65-Jährigen im Vergleich zur Gesamtzunahme der Einwohner zurückzuführen ist. Dieser Prozess ist immer noch im Gange und ist im Tessin etwa 15 Jahre vor dem nationalen Durchschnitt. Die demografische Entwicklung macht die Obsan-Studie für unseren Kanton interessant und hochaktuell».
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Tessin und der Schweiz
Auf die Frage des Journalisten Giona Carcano, Autor des Interviews, ob die Prognosen der Obsan-Studie mit den strategischen Massnahmen der “Integrierten Alters- und Pflegeplanung 2021-2030” des Tessins übereinstimmen, erklärt De Rosa, dass “die Bevölkerung des Tessins nicht dieselbe ist wie die der Schweiz. De Rosa stellt fest, dass «ein direkter Vergleich zwischen den beiden Schätzungen schwierig ist, erstens wegen des unterschiedlichen Zeithorizonts und zweitens, weil die Schätzungen bei der Ausarbeitung der Integrierten Planung kantonale Besonderheiten berücksichtigen, die im Obsan-Bericht, der auf nationaler Ebene erstellt und konzipiert wurde, nicht berücksichtigt werden. Ich denke dabei insbesondere an die – im Vergleich zum Landesdurchschnitt – fortgeschrittenere Altersstruktur des Tessins und an das wichtige Angebot der Betreuungsdienste (z.B. Tagesheime). Die Anpassung der nationalen Schätzungen der Obsan-Studie an die Tessiner Realität bestätigt jedoch, dass im Kanton ein ähnlicher Bedarf an Betten in Altersheimen besteht wie in der Integrierten Planung angegeben. Zudem deckt sich der vom Kanton geschätzte Personalbedarf im Wesentlichen mit demjenigen eines anderen Obsan-Berichts».
Tessin: Privilegierte Pflege von älteren Menschen zu Hause
In Bezug auf die Unterschiede, die sich aus der Analyse der beiden genannten strategischen Studien ergeben, sind die Bemerkungen des Direktors des DSS interessant. «In unserem Kanton wird die Entwicklung des Bedarfs an Betten in den Altersheimen teilweise durch eines der Kardinalprinzipien der kantonalen Planung gebremst, das den Verbleib der älteren Menschen zu Hause unter Wahrung der Wahlfreiheit und der Selbstbestimmung der Betroffenen privilegiert und das durch eine deutliche Stärkung der häuslichen Pflege gewährleistet werden soll. Der zentrale Aspekt, um künftig jedem Pflegebedürftigen den Zugang zur Langzeitpflege zu ermöglichen, ist die Entscheidung, die häusliche Pflege weiter zu stärken. Dies entspricht auch dem Wunsch der meisten älteren Menschen, zu Hause bleiben zu können, selbst in komplexen und fragilen Situationen. Im Tessin wird diese Strategie seit rund zwanzig Jahren verfolgt: das macht das der Kanton, zusammen mit anderen Westschweizer Kantonen, zu einem Vorreiter in diesem Bereich steht. Die Obsan-Studie reiht das Tessin sogar in die Gruppe der Kantone mit der stärksten Ausrichtung auf häusliche Pflege ein».
Schrittweiser Abbau von Betten in Altenheimen im Verhältnis zu den über 80-Jährigen
Unter den Massnahmen, die zur Bewältigung der Herausforderungen der kommenden Jahre vorgesehen sind, «ist die offensichtlichste die allmähliche Verringerung der Dichte der Betten in den Altenheimen im Verhältnis zur Bevölkerung über 80, die eine konkrete Antwort auf ihren Pflegebedarf in der bedeutenden Ausweitung der häuslichen Pflege- und Betreuungsdienste und der häuslichen Unterstützungsdienste findet, wie z. B. Tageszentren, Dienste, die Mahlzeiten zu Hause anbieten oder Transportdienste. Integrierte Versorgungsnetze sind ebenfalls ein zentrales Element für das künftige Funktionieren des Sektors. Die Planung fördert die Integration von vernetzten Einrichtungen und Diensten, um den Zugang zu Dienstleistungen zu verbessern, den Dialog zwischen allen Akteuren zu erleichtern und auf die regionalen Bedürfnisse einzugehen. Die Integration von Dienstleistungen ist für das soziale und gesundheitliche Angebot in dem Gebiet von wesentlicher Bedeutung».
Weitere Anstrengungen bei der Ausbildung und Einstellung von Personal
Es liegt auf der Hand, dass jede Ausweitung der Dienstleistungen für ältere Menschen unweigerlich einen höheren Bedarf an Personal in den verschiedenen Diensten nach sich zieht. Angesichts der Schwierigkeiten, die erforderlichen Fachkräfte zu finden, müssen mehr Ausbildungs- und Spezialisierungsmöglichkeiten sowie geeignete Einstellungsstrategien ins Auge gefasst werden. «Schon heute müsste jeder fünfte Tessiner Jugendliche diese Berufe ergreifen, um den Bedarf an Arbeitskräften im Bereich der sozialen und gesundheitlichen Betreuung zu decken. Um die Nachfrage zu decken, setzen die Unternehmen daher auf den italienischen Markt. Bereits zu Beginn der Legislaturperiode erkannte die Regierung diese Notwendigkeit und formulierte das Projekt Prosan 2024, das einerseits die Ausbildung stärken und andererseits die Jugendlichen für diese Berufe sensibilisieren soll, um sie ihnen näher zu bringen. Nicht zu vergessen einige wirtschaftliche Anreize für Praktika».
Pflegende Angehörige, wichtiger Bestandteil der Betreuung und Pflege
Die Veränderungen in der heutigen Gesellschaft machen immer deutlicher, wie schwierig es ist, Töchter und Söhne direkt in die Betreuung ihrer Eltern einzubeziehen. Es ist jedoch bekannt, dass diese Form der Hilfe von den Pflegebedürftigen sehr geschätzt wird. «Pflegende Angehörige stellen eine zentrale Realität dar, eines der wichtigsten Elemente des Pflegenetzes, insbesondere im Hinblick auf die häusliche Pflege. Die kantonale Planung sieht vor, diese Kennzahlen weiter zu verbessern. Angesichts der fortschreitenden Alterung der Gesellschaft und des wachsenden Pflegebedarfs – der auch im Obsan-Bericht hervorgehoben wird, wird diese Rolle nur noch an Bedeutung gewinnen. Auch die Stärkung des Volontariats steht auf der Liste der Umsetzungsprioritäten der Integrierten Planung, die eine Reihe von Unterstützungsmassnahmen vorsieht.»
Marco Lafranchi, Vorstand VASOS FARES