Gesundheitspolitik am Wendepunkt?
Ausgabe: 01-2022 Datum: 31.01.2022
Thema: Gesundheit
Wer soll im Überlastungsfall Anrecht auf einen Platz auf der Intensivstationen habe?
Wer entscheidet über die Chance zu überleben und aufgrund welcher Kriterien?
Heute erreicht mich ein Anruf eines Herzpatienten. Das Spital hat die geplante Untersuchung wegen coronabedingter Überlastung vorläufig abgesagt. Je länger das Virus wütet, desto häufiger kommt es zu solchen „Triagen“, d. h. zur Abwägung der Behandlungspriorität. Das ist angesichts des Omikron-Tsunamis verständlich.
Weniger verständlich sind die Richtlinien der SAMW, die von der Ärzteschaft schweizweit herangezogen werden sollen. Die Richtlinien wurden während der Pandemie mehrmals überarbeitet, unter anderem auch wegen Interventionen des SSR und von Behindertenverbänden. Doch in der aktuellen Version sind nach wie vor Kriterien massgebend, welche Seniorinnen und Senioren benachteiligen.
Bei Überlastung der Kapazitäten soll die kurzfristige Positiv-Prognose entscheidend sein: „Es werden diejenigen Patienten nicht auf der Intensivstation behandelt, die erwartungsgemäss längere Zeit viele Ressourcen binden würden, um die erwartete Überlebensprognose zu erreichen“. Das heisst nichts anderes, als dass Patientinnen und Patienten mit Vorerkrankungen, die einen längeren Aufenthalt auf einer Intensivstation erfordern, nur noch palliativ gepflegt würden.
Die SAMW-Richtlinien verlangen explizit auch eine nachträgliche Anwendung dieser Triage-Kriterien, um mit einem allfälligen Abbruch einer Intensivtherapie Platz zu schaffen für Personen, die mit weniger Aufwand in kürzerer Zeit die Chance haben zu überleben.
Nach der Meinung des Basler Juraprofessors Bijan Fateh-Moghadam bedeutet dies eine Diskriminierung von Patienten, die alt, krank oder behindert sind: „Patientinnen und Patienten, die mit Aussicht auf Erfolg intensivmedizinisch behandelt werden, müssen in der Schweiz damit rechnen, dass ihnen das Beatmungsgerät zugunsten einer jüngeren erkrankten Person mit relativ besserer kurzfristiger Prognose wieder weggenommen wird“, erklärte er an einem Symposium der Universität Basel Es sei rechtswidrig, mit einer Abwägung von Leben gegen Leben eine bereits laufende intensivmedizinische Behandlung von Patienten trotz fortbestehender medizinischer Indikation allein deshalb abzubrechen, weil ein neuer Patient mit relativ besseren Erfolgsaussichten ebenfalls behandelt werden müsste“.
Bea Heim, Präsidentin VASOS FARES